Künstler

Interview mit Ben Kretlow!

Ben Kretlow

Vor ungefähr anderthalb Jahren war ich auf Instagram unterwegs. Es war einer dieser nervenaufreibenden Tage gewesen und ich wollte eine sinnlose Reise durch die weite Welt der sozialen Medien unternehmen. Aber worauf ich an diesem Abend stieß, war überhaupt nicht sinnlos. Es waren ein paar Worte, die tief in mir eindrangen. Ich wollte nur für einen Moment in diesen Worten versinken und fand mich stunden später mit einem Pinot Grigio in der Hand auf meinem Bett wieder. Aus diesem Sinnlosen wurde am Ende das sinnvollste, was ich seit Langem getan habe. Ich bin mir nicht sicher, was es war und warum seine Worte mich so trafen. Aber da lag etwas in seinen Worten, das so verletzlich, sanftmütig und rauchig war, dass ich das Gefühl hatte, er würde direkt in meine Seele schauen. Ben würde sagen, wir alle sind miteinander verbunden und vielleicht habe ich an diesem Abend eine Verbindung zu ihm gespürt. Aber heute spürst du vielleicht eine Verbindung zu ihm. Ich durfte ihm interviewen und genauso wie seine Gedichte sind auch seine Erfahrungen und Denkweisen inspirierend.

Ich versuche immer, in meinen Texten Ausschnitte einer Handlung zu zeigen, in die der Leser von der ersten Sekunde an direkt involviert ist. Die Vorstellung, wie der Anfang war und das Ende sein könnte, liegt dabei allein bei ihm.

Ben Kretlow

1. Hallo Ben, wie geht es dir?

Mir geht es sehr gut, vielen Dank. Ich habe im November 2022 mein neues Buch, das “benjamin winter. Mixtape” veröffentlicht und fühle mich künstlerisch sehr erfüllt, damit.

2. Zum Einstieg in unser Gespräch: Wie bist du zum Schreiben gekommen?

Mein erstes Gedicht schrieb ich im Frühling 1995 als Teil einer Aufgabe im Deutschunterricht. Ich habe keine große Erinnerung mehr daran, außer dass es den Titel “Frühling” trug, und dass meine Lehrerin, die sonst nicht viel von mir hielt, darüber erstaunt war, was ich geschrieben hatte. Ich weiß nicht mehr, ob das der Schlüsselmoment war, der in mir den Drang zum Schreiben ausgelöst hat. Auf jeden Fall hatte es mich immer fasziniert, wie Menschen ihre eigene Welt in den schönsten, tiefsten, härtesten und sanftesten Worten fühlbar beschreiben konnten, und ich wollte das auch können. Und so schrieb ich und schrieb ich von früh an in meiner Jugend, da war ich zwölf, dreizehn, aufwärts bis heute. Daran erinnere ich mich, aber leider ist nicht viel von damals erhalten. Vielleicht auch gut so, denn ich versuche, ob als Künstler oder Privatperson, nie in der Vergangenheit zu leben. Der Moment jetzt zählt, denk ich.

3. Woher nimmst du deine Inspiration?

Aus dem Leben. Von der Liebe. Von Menschen und ihren Umständen. Ja, alles, was einen irgendwie greift und umtreiben könnte. Ich habe dabei oft keine Ahnung, woher eine Idee auf einmal kommt. Sie taucht auf einmal wie aus dem Nichts auf und möchte geschrieben werden. Es heißt ja, dass Gedichte die ehrlichste Form des Geschichtenerzählens sind, und es stimmt. Ich versuche immer, in meinen Texten Ausschnitte einer Handlung zu zeigen, in die der Leser von der ersten Sekunde an direkt involviert ist. Die Vorstellung, wie der Anfang war und das Ende sein könnte, liegt dabei allein bei ihm. Welche Bilder sich in ihm formen beim Lesen, zeigt seinen emotionalen Bezug dazu. Gelingt es mir mit jedem Stück? Nein, aber es ist mein persönlicher Anspruch, dass jemand, der meine Zeilen liest, vielleicht finden könnte: Ja, so fühle ich auch, oder ja, das kommt mir sehr vertraut vor, da ist etwas in diesen Worten, das mich anrührt.

4. Was war deine bisher schwerste Entscheidung, und was hast du daraus gelernt?

Ich denke, es gibt nicht die eine schwerste Entscheidung im Leben. Das Leben kommt und geht in Phasen und schreibt sich selbst. Alles ist irgendwie vorgeschrieben, so fühle ich das zumindest. Ich bin nicht religiös erzogen worden, aber ich denke, es gibt etwas Höheres, das uns alle auf irgendeine Art und Weise verbindet. Ich nenne es meistens Himmel. Jeder von uns ist ein elementarer Teil des Universums und der seinen Teil zu erfüllen hat, damit das Große und Ganze, das Wir gelingt.

5. Was ist dein Traumberuf und warum?

Von klein auf war es mein größter Traum, ein seriöser Schriftsteller und Künstler zu sein. Ich habe so viele Jahre davon geträumt und so viele Jahre hart dafür gearbeitet. Es ist auf der einen Seite Arbeit, all die Stunden, Tage und Nächte, die du damit verbringst, dein Handwerk zu formen, damit zu wachsen, wirklich dich zu finden, ja, genau die Art, deine Art, wie man sich selber ausdrücken will und wofür deine Arbeit stehen soll. Aber auf der anderen Seite ist es auch keine Arbeit; es ist etwas, das du aus tiefstem Herzen liebst, das ein Teil von dem ist, was und wer du bist, und was du nicht einfach so machst aus Zeitvertreib. Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, wenn jemand sich als Hobbyautor bezeichnet. Ich weiß nicht, warum, und es könnte mir ja auch egal sein, aber ich fühle mich dann irgendwie angegriffen. Dann denke ich, er oder sie nimmt diese so wichtige Kunstform nicht ernst und jagt nur einer kleinen Aufmerksamkeit hinterher, die man ja heute zum Beispiel schnell durch die sozialen Medien bekommen kann. Schreiben und kreieren, das lernt man nicht. Es ist dieser Drang in dir, der dich das machen und wirklich leben lässt. In meinem Leben außerhalb der Kunst arbeite ich zudem als Erzieher in einer Kindertagesstätte. Und da ist es genauso wie mit dem Schreiben. Bei aller Fachlichkeit, bei allem theoretischen Wissen, das wichtig ist, brauchst du aber vor allem das Herz dafür, den Charakter, um die jüngsten Menschen begleiten zu dürfen. Man arbeitet solch einen schweren Beruf nicht des Geldes wegen. Du tust es, weil du es aus ganzem Herzen schätzt und liebst, und weil du begreifst, dass es ein Privileg ist, dass Kinder dir wirklich vertrauen und dich teilhaben lassen auf ihrer Entdeckungsreise durch die Anfänge des Lebens. Ich denk, du musst immer voll und ganz überzeugt sein von dem, wofür du dich und deine Zeit einsetzt, sonst klappt es nicht.

6. Ist es wirklich passiert, wenn es niemand gesehen hat? Wie beeinflusst Social Media dein Leben?

Soziale Medien sind ein Teil meines Lebens klar. Aber ich nutze sie hauptsächlich für meine Kunst und mein Publikum. Früher teilte ich auch Privates, obwohl ich das jetzt nicht mehr tue. Es interessiert mich nicht sonderlich, wer wo seinen Kaffee trinkt, und ich muss das anderen von mir auch nicht mehr zeigen. Instagram, YouTube, all diese sind wichtige Plattformen, um sich meinen Lesern präsentieren zu können und mit ihnen dort über meine Kunst in den Austausch zu gehen. Aber ich versuche auch dort nicht mehr so wie früher, Inhalte nur so rauszuhauen, sondern sie dosierter zu posten. Es ist wie mit den Büchern. Ich habe im letzten Jahr das “BLACK ALBUM. traumfäng3r/bootleg” und das “benjamin winter. Mixtape” veröffentlicht, wobei Letzteres wie ein Lichtblitz als Idee zu mir kam und ich spürte: Das musst du jetzt machen, das musst du jetzt veröffentlichen. Es war und ist genau die Momentaufnahme, wo ich jetzt gerade mit meinem Bewusstsein bin, und das persönlichste, was ich bisher geschrieben und als Buch veröffentlicht habe. Allein der erste Teil im Buch – ich glaube, ich habe zuvor noch nie eine Abfolge von Stücken besser zusammengestellt als darin. Die Stücke fließen in einem Rhythmus ineinander, wie es mir zuvor aus meiner Sicht noch nicht gelang. Und wie gesagt, zwei Bücher im letzten Jahr, ich denke, damit ist meine kleine Nische in dem Literaturmarkt erst einmal für eine Weile bedient. Das muss erst einmal sacken und atmen lernen im Leser. Alles andere wäre eine pure Überflutung und Übersättigung.

7. Was treibt dich im Leben an?

Liebe. Und immer zu versuchen, mit dem Herzen zu sehen. Zu teilen und da zu sein, wenn man mich wirklich braucht. Zu wissen, ich konnte für jemanden da sein, der mir viel bedeutet, und zu sehen, dieser Person geht es gut dadurch, dann ist das die größte Freude für mich und gibt mir ein richtig gutes Gefühl. All die positive Energie, die man daraus schöpft … Mir ist klar, wenn der Himmel mich eines Tages zu sich holt, dass ich dann nicht für meine Gedichte erinnert werde. Ich will einfach nur ein guter Mensch sein und mich dabei von meinem Herzen leiten lassen, das ist alles.

„künstler in meinen augen ist,
wer diesen inneren drang hat, zu kreieren –
so, wie man träumer nicht
vom träumen abhalten kann.
ich schreibe, atme auch worte, bilder, eindrücke.
ich liebe jede sekunde davon, was ich erschaffe.“

Ben Kretlow

8. Hast du Vorbilder? Wenn ja, wen und warum? Wenn nein, warum nicht?

Mein absoluter Lieblingsschriftsteller ist der große deutsche Lyriker, Autor und Regisseur Thomas Brasch. Durch ihn habe ich den Blick für Formen und Farben erst begriffen, der schon vorher in mir war, aber erst durch das Entdecken seines Werkes hat sich dieser Blick komplett in mir entfaltet. Und ich bin dankbar, dass ich mit meinem Talent, das mir bewusst ist und das mich zugleich sehr demütig macht, immer versuchen kann, ein gewisses Level an Qualität in meinen Arbeiten zu erreichen. Jeder Künstler sollte einen gewissen Anspruch an sein Schaffen haben, und ich bin diesbezüglich gewiss nicht anders.

9. Da wir gerade beim Thema Vorbilder sind – welche fünf Gedichte, wünschtest du, hättest du selber geschrieben?

Ich will nicht unbescheiden klingen, aber ich habe sie geschrieben – “dilê min / mein herz”, “naile”, “auf einmal ist die welt”, “der reine fluss”, “das klirren der nacht”.

10. Wie gehst du eigentlich mit Hate und Kritik um?

Ich versuche, wenn ich Rückmeldungen zu meinen Arbeiten bekomme, immer davon etwas mitzunehmen. In den allermeisten Fällen sind es positive Anmerkungen, worüber ich mich sehr freue, weil ich es nicht für selbstverständlich nehme, dass sich jemand mit meinen Texten beschäftigt. Ich bin da wirklich dankbar – und es ist keine leere Floskel. Wenn jemand negativ reagiert auf das, was ich mache, dann ist das für diese Person legitim, aber ich als Künstler weiß genau, was ich kann und genauso, wo meine Grenzen sind. Jeder hat immer eine Meinung zu irgendwas, und ich mach mich selbst nicht frei davon. Mir gefällt ja auch nicht alles von den Künstlern, deren Schaffen ich verfolge, aber ich nehme mir davon nichts zu Herzen, wenn negative Reaktionen zu meinem Werk kommen.

11. Hast du schon mal von anderen Männern Kritik erfahren, weil du Lyrik schreibst? Wenn ja, wie gehst du damit um?

Ich weiß noch, wie ich als Jugendlicher oft dafür belächelt wurde, ja. Da war Gedichte schreiben mega uncool, und ich erinnere mich an eine Situation, als ein Junge in der Schule mal an meine Tasche ging und da meinen Block herausholte und laut etwas von mir vor den anderen vorlas und sich damit über mich lustig gemacht wurde. Als Kind war ich sehr schüchtern, und ich redete nie über das, was in mir los ist, was mich beschäftigt, was ich fühle, ich habe alles immer mit mir selber ausgemacht, und schon da war das Schreiben für mich der Schlüssel zu einer Welt, in der ich alles sein konnte, was ich wollte. Aber dieser Moment war sehr prägend für mich und hat mich erst einmal zurückgeschreckt, das weiß ich noch. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich so an sich kaum jemandem etwas zeige, was ich gerade aktuell schreibe oder kreiere, bis ich es veröffentliche; ich habe keine Ahnung. Nur, dass ich mich halt zuerst wohl damit fühlen muss, zufrieden, um ein Endergebnis als solches loslassen zu können, um gelesen zu werden. Heute weiß ich aber, dass solch eine Handlung wie die von dem Mitschüler damals nur eine Reflektion deines Gegenübers ist, eine Reaktion der eigenen Unsicherheit, die in ihnen ausgelöst wird, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, was sie erst mal nicht greifen können. Das alles hat nichts mit dir zu tun, auch wenn es ein langer Weg für mich war, das zu erkennen.

12. Viele Frauen mögen es, wenn Männer Gefühle zeigen und weinen. Wie siehst du das? Wie wichtig ist es, seine Gefühle zu leben und zu kommunizieren?

Ich bin absolut jemand, der sich von seinem Herzen leiten lässt und der es gelernt hat, das zeigen zu können. Das ist so immens wichtig. Ich sehe das einfach als Kern unseres seins. Und ich lebe nach dem, was ich empfinde, und äußere das und versuche, Menschen immer zu ermutigen, danach zu leben und sich nie zurückzuhalten oder zu verstellen, sondern: lass dich tragen von deinen Emotionen. Umarm die Welt, wenn dir danach ist, und lehne dich an, wenn du Schutz brauchst. Bleib nicht allein mit dir, wenn du gerade keine Zuflucht bei dir selber finden kannst. Ich weiß, das bietet viel an Angriffsfläche für Verletzungen, aber ich sehe Menschen immer zuerst buchstäblich als Mensch. Wir alle bluten immerhin in derselben Farbe. Es gibt ein richtig wunderschönes Zitat von Prince, und zwar: “Alles Schöne ist es wert, dafür verletzt zu werden.” Und ich denke, er lag damit vollkommen richtig. Gefühle sind ein Zeichen des Lebendigseins von Menschen, nicht von Geschlechtern.

13. Bist du in deiner Persönlichkeit eher introvertiert oder extrovertiert?

Im großen Kontext bin ich zu Beginn immer leise. Ich beobachte, zeige nicht viel von mir und brauche einfach die Zeit für mich, Menschen und Umgebungen auf mich wirken zu lassen und darin meinen Platz zu finden. Ich lasse mich diesbezüglich auch nicht drängen, sondern sehe es als eine Qualität an, sich nicht gleich vom ersten Augenblick komplett zu offenbaren. Ich höre oft: Du strahlst solch eine Ruhe aus – aber zugleich auch so etwas wie: Du setzt unbewusst Grenzen, die man nicht zu überschreiten wagt, ohne dass du es jemandem direkt sagst. Als Kind und Jugendlicher war ich sehr schüchtern, und ich bin das manchmal immer noch, auch wenn ich es nicht zeige, dass mir wortwörtlich in manchen Momenten die Muffe geht und ich am liebsten einfach nur die Tür schließen wollen würde, um mich nicht überwinden zu müssen. Aber wenn ich mich wohlfühle mit jemandem oder in einem Setting oder ich spüre, dieser Person kann ich vertrauen, dann kann ich loslassen und wirklich mich zeigen. Ich denke grundsätzlich, dass ruhige Menschen vielmehr als solche wirklich gesehen und gehört werden sollten, da sie durch ihr Wesen eine ganz besondere Komponente mitbringen hinein in diese Welt, die meistens nur stürmt und lärmt.

14. Wenn du einem kleinen Kind einen Rat mitgeben könntest für den Rest seines Lebens, welcher wäre das?

Bitte, bitte höre nie auf, an deine Träume zu glauben, weil alles davon wahr werden kann, wenn du es wirklich möchtest. Aber zugleich würde ich ihm sagen, dass man hart dafür arbeiten muss, dass diese Welt einem nichts schenkt, und es allein am eigenen Willen liegt, wie weit man kommt mit seinen Wünschen. Bleib stark und steh auf, wenn du fällst. Fokussiere dich, aber verlier dabei nie die Liebe für die Sache, die du unbedingt erreichen willst.

tief

meine hand ist hinter dem nebel
& da ist wärme, spür ich
da ist lachen, hör ich
da sind träume, die lebendig sind
& ich geh weiter, wenige schritte nur,
und fange an

Ben Kretlow geschrieben am 17.04.2021

15. Viele deiner Texte beschäftigen sich mit dem Sein, zeigen Ausschnitte aus den fiktiven Leben deiner Protagonisten, erzählen von dem Festhalten an Hoffnung und wirken spirituell. Glaubst du persönlich an Schicksal?

Durchaus. Wie ich schon meinte, für alles um uns herum gibt es einen Plan, und jeder einzelne – du, er, sie, wir – ist ein Teil von allem. Es ist dasselbe wie mit dem Konzept von Karma: Sei gütig, und alles, was du gibst, fließt zu dir zurück. Das Herz schlägt, glaubt mir, so viel beruhigter im Licht.

16. Was möchtest du noch im Leben erreichen?

Ich denke, alles im Leben ist Entwicklung und Wachstum, und wie gesagt, das Leben schreibt sich selbst. Keiner hat einen genauen Blick hinein in die Zukunft, daher glaube ich nicht an Fünfjahrespläne oder dergleichen. Das sind alles externe Konstrukte, die dich bei der Stange halten sollen, etwas, was dir vorgegaukelt wird, weil jeder etwas auf Druck erreichen muss in unserer Gesellschaft. Aber so etwas hat für mich zumindest nie funktioniert. Daher versuche ich, im Moment zu sein. Alles ist genau so vor- und festgeschrieben im Jetzt, wie es ist, und daraus entwickelt sich dann alles, was für einen kommt. Ich denke, wir sollten wieder mehr Vertrauen darin finden, dass letztlich alles wahr wird, wovon man träumt. Es geschieht alles, und dafür musst du nicht deine Augen schließen.

17. Glaubst du an ein Leben nach dem Tod? Hast du Angst vorm Sterben?

Eine interessante Frage. Wie gesagt, ich glaube an etwas Höheres, ich nenne es Himmel, aber das ist nicht religiös in mir; ich würde es spirituell nennen. Ich denke, die Seele von jedem hat eine bestimmte Zeit hier auf Erden, eine bestimmte Menge an Licht, um es irgendwie deutlicher zu versuchen, zu beschreiben, und wenn dieses zu Ende geht, verlässt deine Seele diese Welt, um irgendwohin weiter zu ziehen. So bleibt alles, was du in dir bist, unendlich. Ich weiß nicht … Angst vorm Sterben fühle ich nicht; ich hoffe nur, dass der Übergang in ein anderes Leben nicht schmerzhaft, sondern friedsam sein wird. Aber ich mache mir darüber keine Gedanken. Ich bin noch jung, ich bin gesund und liebe das Leben zu sehr, um an ein Gehen zu denken.

18. Nun zu einem anderen Thema: Wie wichtig ist dir Musik, und wie hilft sie dir beim Schreiben?

Musik ist essenziell. Viele meiner Texte sind so aufgebaut vom Sprachrhythmus, vom Fluss des Sprechens, von ihrer Struktur her, als könnten es Texte für Songs sein. Aber das mache ich nicht bewusst. Es fließt einfach in dieser Weise, während ich schreibe. Und wenn ich schreibe, läuft meistens Musik dabei im Hintergrund. Miles Davis’ “Kind of Blue”-Album, zum Beispiel, alte Jazzsachen oder ganz viel Prince; Songs und Stücke mit Atmosphäre und Ambiente, die irgendwie das in Tönen festhalten, in welcher Stimmung ich beim Schreiben gerade bin.

vom vermissen

jede stunde ein anderes lied in der dunkelheit:
alles ist so anders, bist du nicht hier
vielleicht weiß ich meer um dich, wenn bald in zeit
sich dein Flüstern rauschend legt zu mir

Ben Kretlow geschrieben 29.Oktober 2017

19. Kannst du immer schreiben, oder hast du eher feste Schreibzeiten?

Ich denke, dass man Kreativität nicht planen kann. Deswegen habe ich früher in der Schule auch kein Verständnis für den Kunstunterricht gehabt, weil das nie natürlich war, sondern artifiziell künstlich herbeigeführt – und wer gibt Lehrern das Recht, deinen Ausdruck wie im Kunstunterricht zu beurteilen … Ein absolut falsches Konzept. Kreativität kommt zu dir, wann immer sie es will, und ich als Autor bin das Medium, das die Worte einfängt und ihr ihren passenden Klang verleiht. Das kann mitten in der Nacht sein, morgens im Bus, auf dem Weg zur Arbeit oder wenn ich im Supermarkt an der Kasse warte, und schwups, ist da ein Wort, eine Zeile, und ich muss sie unbedingt festhalten. Und meistens formt sich dann das Stück von ganz alleine. Ich bin nicht die Art Lyriker, der über eine lange Zeit an seinen Gedichten feilt. Bei mir sind sie zu 99 Prozent just in den Minuten fertig, wenn sie meine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil ich immer den Moment festhalten möchte. Lege ich den Text aber zur Seite, weil ich damit nicht vollständig zufrieden bin, dann hole ich diese Fragmente selten später noch einmal hervor und bringe sie zu Ende. Der Zauber des Augenblicks ist dann für mich einfach nicht mehr derselbe. Wie der berühmte Dichter Thomas Brasch einmal sagte: Man weiß nie, wie Gedichte entstehen oder woher sie kommen, und ich finde, er hatte absolut recht, weil ich es genau auf diese Art und Weise jedes Mal in mir selbst erlebe.

20. Welchen Rat würdest du anderen geben, die auch anfangen wollen zu schreiben?

Hast du den inneren Drang zu schreiben, dann schreibe. Hast du das Gefühl, es bereichert dich, lehrt dich etwas über dich selbst, sodass du dich besser für dich zum Ausdruck bringen kannst, dann schreibe, wann immer du kannst und du es fühlst. Und vor allem: Lass dich dabei niemals beirren von niemandem. Solange du es für dich tust und du spürst, du machst das nicht, weil du es eben tust, sondern weil es wirklich ein Teil von dir ist, dann lege niemals Stift, niemals Papier dorthin zur Seite, wo es nur Staub ansetzt. Das wäre zu schade.

„wenn du beginnst zu schreiben, fang an
mit dem, was du siehst. beschreib Begegnungen, blicke, komische sequenzen im bus, ja, übe
dich mit dem, was draußen geschieht.
lass es wirken, schließ die augen + öffne sie wieder,
& dann schreib alles noch einmal
aus wirklich DEINER perspektive.“

Ben Kretlow

21. Und nun zum Schluss, Ben: Was sind deine nächsten Ziele? Hast du neue Bücher geplant?

Ich werde dieses Jahr wahrscheinlich kein neues Buch veröffentlichen, aber bei mir kommen und gehen ganz schnell Ideen für Projekte. Also, wer weiß … Wenn mich eine Idee jedoch wirklich packt, dann bleibe ich dran. Andernfalls habe ich ein weiteres Buch schon fertig, das entstand noch vor dem “benjamin winter. Mixtape” und heißt “die im dunkeln sieht man nicht”. Fünfzig neue Stücke, aber bis wir sie auf Papier sehen, denk ich, haben wir 2024 frühestens. Wie gesagt, was ich lerne zurzeit: Keine Überflutung des Marktes. Früher träumte ich immer davon, das längste Regal mit nur meinen Büchern darauf stehen zu haben. Aber mich hetzt nichts mehr diesbezüglich; seit 2016 kamen fünf Printbücher von mir heraus. Das ist schon mehr, als ich mir als Kind hätte je erträumen können, und das macht mich sehr dankbar und demütig. Man kann also die tiefsten Wünsche wirklich wahr werden lassen … Und sonst darüber hinaus hoffe ich, weitere Lesungen, wie zum Beispiel mit meinem Künstlerfreund und -kollegen Haydar Karaldi, in diesem Jahr halten zu können, womit ich 2022 angefangen habe. So erfahren meine Stücke noch einmal einen ganz anderen Betrachtungswinkel, eine neue Form der Perspektive, die ich unbedingt weiter erkunden will.

„ICH SCHREIBE KONTINUIERLICH + HABE
SO VIEL MATERIAL BEREITS JETZT SCHON.
DASS ICH MICH FRAGE, WIE VIEL WIRD
ERST IN DREIßIG JAHREN IN MEINEN SCHUBLADEN LIEGEN.
ABER ICH KANN NICHT ANDERS. ALS IMMER
WIEDER AN DEN NÄCHSTEN TEXT ZU DENKEN.
SELBST WENN MIR KLAR IST.
DASS DAS MEISTE DAVON NIEMALS
DAS TAGESLICHT SEHEN WIRD.“

Ben Kretlow

Ben Kretlow

Danke Ben, dass du dieses Interview mit mir geführt hast. Ich bin mir sicher, dass du viele Menschen mit deinem Weg inspirieren wirst. Wenn du mehr von Ben sehen möchtest, folge ihm gerne auf Instagram oder schaue auf seiner Website und Youtube vorbei.

 

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